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Koloniale Forschung fand nicht nur in weit entfernten Kolonien statt, sondern auch innerhalb Deutschlands und direkt hier in Göttingen. Im Ersten Weltkrieg schickten England und Frankreich außereuropäische Soldaten aus ihren Kolonien nach Europa, welche dort kämpfen sollten. Nach ihrer Gefangennahme durch Deutsche waren einige von ihnen in deutschen Kriegsgefangenenlagern Teil anthropologischer, ethnologischer und linguistischer Forschungen. Auch im Göttinger Gefangenenlager Ebertal waren auf Wunsch des hiesigen Iranistikprofessors Friedrich Carl Andreas neben europäischen Gefangenen zeitweise vier afghanische und ein belutschischer Soldat untergebracht. Ihren unfreiwilligen Aufenthalt im Kaiserreich benutzte Andreas zur Erforschung indoiranischer Sprachen und Kulturen.

 

Das Lager Ebertal

Der Erste Weltkrieg begann im Juli 1914. Noch im selben Jahr wurde in Göttingen ein Kriegsgefangenenlager errichtet, um einen Teil der gefangenen feindlichen Soldaten aufzunehmen. Das Lager wurde am damaligen Rand der Stadt Göttingen (heute südlich der Kreuzung Merkelstrasse/Am Steinsgraben) hinter den Kasernen errichtet und bot in über 200 Baracken Platz für etwa 10.000 Gefangene; überwiegend Franzosen, Engländer, Russen, Italiener und Belgier. Eine Sonderrolle unter den Gefangenen in Göttingen nahmen die flämischen Soldaten ein, die durch gezielte Propaganda im deutschen Sinne beeinflusst werden sollten. Die Hoffnung war, durch Spannung zwischen Wallonen und Flamen eine Trennung Belgiens und den Anschluss des Herzogtums Flandern an das Kaiserreich zu bewirken.

Mit Bibliotheken und Schulungsmöglichkeiten sowie regelmäßige Aufführungen durch Orchester und Theatergruppen der Gefangenen sollte das Lager Göttingen in der internationalen Presse als Musterbeispiel eines deutschen Kriegsgefangenenlagers gelten und Deutschland als Vorbild für humanitäre Behandlung von Kriegsgefangenen zeigen. Dennoch war die Lage der Gefangenen gezeichnet durch Lebensmittelknappheit. Die Kriegsgefangenen spielten für Deutschland während des Krieges besonders als billige Arbeitskräfte eine wichtige Rolle. Der durch den Krieg bedingte Arbeitskräftemangel wurde durch Arbeitskommandos aus Kriegsgefangenen ausgeglichen, die in Landwirtschaft, Industrie und Bergbau eingesetzt wurden. Auch die Göttinger Gefangenen wurden so zum Arbeitsdienst in der Region benutzt. Im Lager kam es zwischen 1914 und 1919 trotz der Versuche einer vorbildlichen Behandlung der Gefangenen zu etlichen Todesfällen durch Infektions- und Atemwegserkrankungen.


Blick auf das Lager Ebertal. Im Hintergrund sind die Göttinger Kirchtürme schwach zu erkennen. Besonders Kälte und schlechte hygienische Bedingungen im Lager führten zu Krankheit und Tod. Ein beheiztes Bad gab es für die Gefangenen einmal die Woche. Ansonsten blieb zur persönlichen Hygiene nur kaltes Wasser.[Abb.1]

Koloniale Forschung im Lager Ebertal begann 1917, als der Göttinger Orientalist und Iranist Friedrich Carl Andreas fünf Kriegsgefangene, die als Soldaten der britisch-indischen Armee nach Europa gekommen waren, nach Göttingen holen ließ.

 

Kolonialsoldaten in Europa

Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges war der „Menschentransfer" zwischen den europäischen Mutterländern und den Kolonien bis auf wenige Ausnahmen einseitig verlaufen. Europäische ForscherInnen, MissionarInnen und Händler reisten in die Kolonien, umgekehrte „Reiserouten" für die Bevölkerung der Kolonien nach Europa waren selten. Dies änderte sich, als 1914 außereuropäische Soldaten und zivile Arbeitskräfte nach Europa kamen, um dort am Kriegsgeschehen teilzunehmen.

Als europäische Akteure im Krieg standen Deutschland und Österreich-Ungarn den sogenannten Entente-Mächten Frankreich, Großbritannien und Russland gegenüber. Großbritannien und Frankreich verfügten zu diesem Zeitpunkt beide über ein weitreichendes Kolonialreich und über Kolonialtruppen, die aus Bewohnern der Kolonien bestanden und bereits früher von ihnen in kriegerischen Konflikten eingesetzt worden waren. Vor 1914 allerdings nur außerhalb Europas. Als bereits im ersten Kriegsjahr absehbar wurde, welche große menschliche Verluste der Krieg in Europa fordern würde, wurden erstmals Teile dieser Kolonialtruppen auch innerhalb Europas eingesetzt.

In Europa herrschte zu diesem Zeitpunkt die Vorstellung der klaren „rassischen“ und kulturellen Überlegenheit der EuropäerInnen gegenüber den von ihnen kolonialisierten Bevölkerungsgruppen in Afrika, Asien, Ozeanien und Amerika. Die „Erlaubnis", außereuropäische Soldaten gegen weiße Europäer kämpfen zu lassen, wurde von deutscher Seite aus als Angriff auf diese „rassische“ Hierarchie gesehen. Rassistische Argumentationen, die die Kolonialsoldaten als „wilde Menschenfresser“ bezeichneten, ihren Einsatz durch die Kriegsgegner als Zeichen von Schwäche und kulturellem Verfall darstellten und den Krieg zu einem „Rassenkampf“ erhoben, wurden gezielt genutzt, um die Kriegsbemühung im deutschen Volk zu steigern. Wie erfolgreich derartige Argumentationen waren, zeigt sich daran, dass bereits im zweiten Kriegsjahr vom Armeeoberkommando ein Pamphlet herausgegeben werden musste, das die unter den deutschen Soldaten geschürte Angst vor den unbekannten, als barbarisch geltenden kolonialen Soldaten wieder eindämmen sollte. Grund war die Neigung der Soldaten, besiegte afrikanische und indische Soldaten eher zu töten, als sie gefangen zunehmen. In dem Pamphlet bemerkte der Autor Paul Walter, vormals als Missionar in Indien tätig, dass „[j]eder lebendig gefangene Inder und Nordafrikaner […] uns für die Gegenwart und Zukunft von Nutzen sein [kann], wenn er sich entgegenkommend behandelt sieht.“[1]

 

Außereuropäische Soldaten als Kriegsgefangene im Kaiserreich

Der Nutzen, den sich die deutsche Obrigkeit versprach, lag in der Destabilisierung der Kriegsgegner durch die Beeinflussung ihrer Kolonialsoldaten. Durch die gemeinsam mit dem verbündeten Osmanischen Reich verfolgte sogenannte „Djihad-Strategie“ sollten muslimische Gefangene dazu gebracht werden, sich gegen ihre bisherigen Herrscher zu stellen und stattdessen als Teil des Osmanischen Reichs gegen die Truppen der Entente zu kämpfen. Ebenso sollten revolutionäre Erhebungen in den Kolonien der Kriegsgegner unterstützt werden, um diese zu schwächen und vom Kampf in Europa abzulenken.

Um diese Beeinflussung der Kolonialsoldaten zu erleichtern, wurden südlich von Berlin zwei Sonderlager, genannt „Halbmond“- und „Weinberglager“, für außereuropäische Soldaten eingerichtet. Hier sollten die Gefangenen aus den Kolonien von den übrigen Kriegsgefangenen isoliert werden. Durch bevorzugte Behandlung und gezielte Propaganda wollte man sie für Deutschland einnehmen und gegen die gegnerischen Mächte ausspielen. Bessere Verpflegung und Bekleidung, Freiheiten in der Religionsausübung und in Arabisch, Russisch, Urdu und Hindi verfasste Lagerzeitungen wurden zur Einwirkung auf die Gefangenen genutzt.

Die Tatsache, dass in diesen Lagern Soldaten aus verschiedensten Regionen des (kolonialisierten) Außereuropäischen interniert waren, weckte auch das Interesse von Forschern. Anthropologen, Ethnologen und Sprachwissenschaftler kamen in die Lager, um dort koloniale „Feldforschung“ direkt im Mutterland durchzuführen. Forschung, deren Ergebnisse dann genutzt wurden, um beispielsweise über das Aufstellen von Rassentheorien die koloniale Herrschaft der EuropäerInnen zu legitimieren.

Eines der prestigeträchtigsten Forschungsunternehmen, das sich der durch Weltkrieg und Gefangenschaft entstandenen Situation bediente, war die Sammlung von Tonaufnahmen, die „die Sprachen und die Musik aller Völker der Erde“[2] festhalten sollten. Die von dem deutschen Sprachwissenschaftler Wilhelm Doegen ins Leben gerufene Königlich Preußische Phonographische Kommission (KPK) führte zwischen 1914 und 1918 Lautaufnahmen in gut 30 Kriegsgefangenenlagern durch. Ein Mitglied dieser Kommission, zugeteilt der Untergruppe „Indische und mongolische Sprachen“, war der Göttinger Iranistikprofessor Friedrich Carl Andreas. Andreas war auf die iranischen Sprachen der Afghanen und Belutschen spezialisiert und bediente sich für seine Forschung Muttersprachlern, die als indische Soldaten von den Briten nach Europa geschickt worden waren. Nach seiner Arbeit als Mitglied der Kommission im „Halbmondlager“ verlegte er seine Tätigkeit 1917 direkt nach Göttingen.

Der Göttinger Iranist Andreas mit Afghanen und Belutschen im Lager bei Berlin. Das Bild wurde 1926 in Wilhelm Doegens Buch „Unter fremden Völkern“ abgedruckt. Andreas verfasste das Kapitel „Die Iranier“. Auf dem als Propagandaaufnahme entstandenen Bild wird eine Forschungssituation inszeniert, die gezielt den Eindruck einer friedlichen Zusammenarbeit vermitteln soll. Vier der hier abgebildeten Personen nahmen jedoch als Gefangene und damit aus einer Zwangssituation heraus an der Forschung teil.[Abb.2]

 

Forschung für Wirtschaft und Politik

Von der Arbeit in Göttingen versprach Andreas sich größere Freiräume und die Möglichkeit zur intensiveren Forschung. In Entfernung zu Berlin und unabhängig von der KPK konnte er hier den Schwerpunkt seiner Arbeit verschieben. Tonaufnahmen waren für ihn nur noch von zweitrangiger Bedeutung. Andreas wollte eine Grundlage für das Studium des Afghanischen schaffen und die Sprachentwicklung im indoiranischen Raum erforschen, verband dies jedoch auch mit intensiven ethnologischen Forschungen. Die Beschäftigung mit der Sprache sollte als Mittel dienen, „die geistige Eigenart der Afghanen in allen ihren Beziehungen kennen zu lernen.“[3] Durch Gruppensitzungen und Unterhaltungen, deren Inhalt er in der Originalsprache und deutscher Übersetzung aufzeichnete und die er durch gezielte Fragen lenkte, wollte er Einblicke in die sozialen und politischen Verhältnisse der afghanischen und belutschischen Gesellschaften erhalten. So ließ er in Gruppensitzungen beispielsweise Wohnsituationen und unterschiedliche Verwandtschaftsverhältnisse diskutieren.

Einen praktischen Nutzen versprach Andreas sich dabei sowohl von seiner linguistischen als auch seiner ethnologischen Forschung. In wirtschaftlicher Hinsicht hob er die Bedeutung des Wissens über außereuropäische Kulturen für Kaufleute und Industrielle, die international arbeiten wollen, hervor. Und auch auf die politische Bedeutung des ethnologischen Wissens weist er wiederholt hin. Bei Andreas, wie bei vielen anderen ForscherInnen, verband sich die wissenschaftliche Arbeit mit propagandistischen Bemühungen. Auch er versuchte, die Kolonialsoldaten der gegnerischen Mächte im deutschen Sinne zu beeinflussen. In Briefen spricht Andreas offen davon, seinen zu Forschungszwecken hergestellten, engen Kontakt mit den britisch-indischen Soldaten auch genutzt zu haben, um diese „auf die Schattenseiten der englischen Herrschaft und die Vorzüge unseres Volkes aufmerksam zu machen.“[4] Er gab Sprachunterricht für MissionarInnen und hielt Vorträge für den deutschen Verein für Handelsgeographie. Seine Arbeit diente sowohl den Interessen der deutschen Wirtschaft, als auch der deutschen Politik.

 

Forschung an und mit Gefangenen

Die Verlegung der Gefangenen nach Göttingen diente der Erleichterung von Andreas‘ Arbeit. Der Balutsche Schahdad Khan und die vier Afghanen, darunter namentlich nachweisbar Abdul Aziz Khan und Sunab Gul, waren nicht freiwillig in Göttingen, sondern auf Andreas‘ Wunsch hin für dessen Forschung. Für Andreas stellten sie in erster Linie sein Forschungsmaterial dar. Während sich andere ForscherInnen Steine oder Pflanzen in ihr Arbeitszimmer holten, holte Andreas sich Menschen, die dann als die Objekte seiner Forschung fungierten. Diese partielle Umdeutung von Menschen zu Forschungsobjekten lässt sich in Andreas‘ Aufzeichnungen ablesen, in denen er, trotz der überschaubaren Anzahl der Personen, mit denen er in Göttingen arbeitete, kaum Namen nennt, sondern von „den Afghanen“ und „meine[m] Balotsch“ spricht. Statt der Individuen scheint er lediglich Vertreter bestimmter Kulturen gesehen zu haben, die er für erforschenswert hielt.

Andreas‘ Sichtweise darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Gefangenen natürlich nicht um passive Objekte handelte. Ganz im Gegenteil verfügten auch sie über eigene Vorstellungen und Wünsche, die sie in dem geringen Handlungsspielraum, der ihnen in der Gefangenschaft zu Verfügung stand, umzusetzen suchten. Ein Beispiel dafür stellt das Verhalten von Abdul Aziz Khan dar. Dieser erklärte sich zwar anfangs bereit, an der Forschung teilzunehmen, später aber – möglicherweise nachdem er merkte, dass sich daraus für ihn keine Vorteile ergäben – setzte er seine geringe Handlungsmacht ein, um sich Andreas und der von diesem über ihn ausgeübten Kontrolle wieder zu entziehen. So ließ er sich zuerst freiwillig einem Arbeitskommando zuteilen, um das Lager verlassen zu können, und beantragte später seine Verlegung weg aus Göttingen in ein anderes Lager.

Für Andreas war dies nicht nachvollziehbar. Die übergeordnete Rolle, in der sich die EuropäerInnen gegenüber den Menschen anderer Kontinente sahen, und die als selbstverständlich empfundene europäische Beherrschung der außereuropäischen Welt verhinderten eine kritische Reflexion der Zwangssituation, auf der seine Forschung aufbaute. Die durch Kolonialismus und Krieg entstandene Situation stellte in Andreas‘ Augen einen Glücksfall dar, den auszunutzen für jeden Forscher eine Pflicht sei. Widerstand gegen die Forschung durch die Beforschten hatte keinen Platz in einem Selbstbild, in dem sich der deutsche Forscher als Wohltäter, väterlicher Freund und Unterstützer gegen die englische Unterdrückung sah. Folglich war Aziz Khans Verhalten für Andreas dann auch keine nachvollziehbare Reaktion auf eine entwürdigende Behandlung, sonders Ausdruck eines vermeintlich unverschämten, hochmütigen und verschlagenen Charakters.

Bedeutend ist die aktive Rolle der Gefangenen nicht nur im Falle ihres Widerstandes, sondern auch für den Forschungsprozess, an dem sie als handelnde Akteure beteiligt waren. Die Forschungsergebnisse aus der Arbeit im Kriegsgefangenenlager Ebertal basieren auf den Gesprächen der Gefangenen miteinander und mit Andreas, auf ihren Aussagen und Darstellungen. Die ethnologischen und linguistischen Erkenntnisse aus dem Lager sind nicht nur das Ergebnis der Arbeit Andreas‘, sondern auch der geleisteten Arbeit der Gefangenen in einer durch Zwang geprägten Situation. Aufzeichnungen von Andreas lassen vermuten, dass sich einige von ihnen auf eigenen Wunsch hin auch über die Gespräche hinaus aktiv an der Forschung beteiligten und sogar seine Mitschriften Korrektur lasen.

Die zentrale Mitarbeit der Gefangenen an der Sprachforschung und ihre ausführlichen Gespräche, die vermeintliche ethnologische Erkenntnisse auf europäischer Seite überhaupt erst ermöglichten, hielten Andreas jedoch nicht davon ab, später von den Ergebnissen seiner Forschung zu sprechen. Durch seine Arbeit sei das Studium des Afghanischen auf eine neue Grundlage gestellt worden, er habe die Grundlage afghanischer Dialekte festgestellt und er habe Wissen um die Lebensverhältnisse und Verwandtschaftsbeziehungen „der Afghanen“ erarbeitet. Im Gefangenenlager arbeitete er – so seine Darstellung – nicht gemeinsam mit Muttersprachlern, sondern hatte Personen, die ihm „zur Verfügung“ standen.[5] Wiederholt klagte er über die Anstrengung und Belastung, der er durch die Arbeit ausgeliefert sei. Der Aufwand seiner unfreiwilligen Mitarbeiter bleibt unerwähnt. Auf die Spitze getrieben wird dies in seinen Klagen über den Zeit- und Kraftaufwand, den die Fürsorge des an Tuberkulose erkrankten Shahdad Khan forderte. Die Forschung und die dadurch begründete Verlegung Shahdad Khans nach Göttingen als mögliche Gründe für die Krankheit und damit seine mögliche Mitschuld an dem auf die Krankheit folgenden Tod im August 1918 hingegen erwähnt Andreas nicht.


Denkmal für die im Lager Ebertal gestorbenen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs auf dem Göttingen Stadtfriedhof. Wahrscheinlich wurde auch Schahdad Khan hier beerdigt. Auf dem Stein steht: „Hier ruhen 655 Russen, 13 Rumänen, 1 Afrikaner, 1 Belgier, 1 Inder. Sie starben für ihr Vaterland im Weltkrieg 1914–1918“. Soldaten aus Afrika und Indien kämpften und starben in den Weltkriegen nicht für ihr Vaterland, sondern für die kolonialen Besatzer ihrer Heimat.[Abb.3]

Am Beispiel von Andreas‘ Arbeit in Göttingen lassen sich mehrere Rückschlüsse über die Forschungsarbeit in Kriegsgefangenenlagern und das Verhältnis von Wissenschaft und Kolonialismus ziehen.
Soldaten aus afghanischen Gebieten und Indien, die sich nach der englischen Kolonialisierung ihrer Heimat nun in deutscher Gefangenschaft befanden, benutzte Andreas als Forschungsobjekte. Deutlich zeigt sich die Ausnutzung der kolonialen Strukturen für seine Forschung und die durch rassistische Annahmen legitimierte Ausschöpfung der ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen, hier die Sprache, das Wissen und die Kompetenzen der Kriegsgefangenen.

Gleichzeitig zeigt sich auch die Bedeutung dieser durch koloniale Netze ermöglichten Forschung. Hier, in den Gefangenenlagern, eröffnete sich die Möglichkeit, Sprache und Kultur außereuropäischer Gesellschaften zu erforschen, ohne langwierige und kostspielige Expeditionen durchzuführen. Damit konnten deutsche und europäische Wissensstrukturen auf- und ausgebaut werden. Disziplinen wie die Iranistik entstanden nicht nur unter Ausnutzung und zur Unterstützung kolonialer Strukturen im Außereuropäischen, sondern auch durch die erhebliche (erzwungene) Arbeit nicht-europäischer AkteurInnen in Europa selbst. Leider werden diese in den Geschichten der Disziplinen oft übersehen oder bewusst unsichtbar gemacht.

 

Von Iris Olszok

 

 

Literaturhinweise

Gerhard Höpp, Muslime in der Mark. Als Kriegsgefangene und Internierte in Wünsdorf und Zossen, 1914–1924, Berlin 1997.

Gerhard Höpp/Brigitte Reinwald (Hg.), Fremdeinsätze. Afrikaner und Asiaten in europäischen Kriegen, 1914–1915, Berlin 2000.

Christa Mirwald, Ausländer in Göttingen – von 1914 bis heute, in: Hans-Georg Schmeling (Hg.), 100 Jahre Göttingen und ein Museum. Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum und im Alten Rathaus 1. Oktober 1989–7. Januar 1990, Göttingen 1989, 89–116.

Rainer Pöppinghege, Das Kriegsgefangenenlager Ebertal als Zentrum flämischer Propaganda im Ersten Weltkrieg, in: Dieter Neitzert (Hg.), Göttinger Jahrbuch, Band 51, Göttingen 2003, 49–60.

Franziska Roy/Heike Liebau/Ravi Ahuja (Hg.), Soldat Ram Singh und der Kaiser. Indische Kriegsgefangene in deutschen Propagandalagern 1914–1918, Heidelberg 2014.

 


[1] Zit. nach: Ravi Ahuja, Vergessene Konfrontationen. Südasiatische Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft, 1915–1918, in: Franziska Roy/Heike Liebau/Ravi Ahuja (Hg.), Soldat Ram Singh und der Kaiser. Indische Kriegsgefangene in deutschen Propagandalagern 1914–1918, Heidelberg 2014, 27–68, 33.

[2] Wilhelm Doegen, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Unter fremden Völkern. Eine neue Völkerkunde, Berlin 1926, 9–16, 9.

[3] Universitätsarchiv Göttingen, Cod.Ms.F.C.Andreas 2: H. 6, Briefe aus den Jahren 1917–1923, Brief an das Königl. Preuß. Kriegsministerium, [Ohne Datum], 22–24.

[4] UArch, Cod.Ms.F.C.Andreas 2: H. 6, Briefe aus den Jahren 1917–1923, Brief an das Königl. Preuß. Kriegsministerium, 21.11.1917, 20–21.

[5] UArch, Cod.Ms.F.C.Andreas 2: H. 6, Briefe aus den Jahren 1917–1923, Brief an Unbekannt, [?].8.1917, 7–8, vgl. auch ebda., Brief an W. Schulze, 14.9.1917, 14.


Abbildungen

[Abb.1] Fotos aus dem Kriegsgefangenenlager 1914-1918. Urheber: Aus dem Besitz von Emile Beliens. Trotz intensiver Bemühungen konnte keinE UrheberIn ermittelt werden, eventuelle RechteinhaberInnen bitten wir um Benachrichtigung. Standort: Stadtarchiv Göttingen, KGL Nr. 57.

[Abb.2] Helmut von Glasenapp, Die Radschputen, in: Wilhelm Doegen (Hg.), Unter fremden Völkern. Eine neue Völkerkunde, Berlin 1926, 140-150, Bildanhang. Online unter: https://acoustics.mpiwg-berlin.mpg.de/node/1064 (letzter Zugriff: 14.4.2020). Urheber: Unbekannt, evtl. Helmut von Glasenapp. Standort: Preußische Staatsbibliothek, Digitalisat vom Max Planck Institute for the History of Science, Lizenz: CC-BY-NC-SA.

[Abb.3] Foto: Privatbesitz von Iris Olszok (2019).