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Ein Basar mit wallenden Stoffen in leuchtenden Farben, exotischen Früchten und Wunderlampen aus feinem Metall in engen, belebten Gassen. Unter den Menschen sind Flötenspieler, die mit ihrem Instrument Schlangen beschwören, und Turban tragende Gurus auf Nagelbrettern oder fliegenden Teppichen. Frauen in seidenen Kleidern vollführen einen Bauchtanz. Dies ist nur eines der vielen Beispiele für das romantische Bild vom Orient, das es in der westlichen Welt gibt. Man findet es unter anderem in der Musik, der Literatur oder in Filmen. Der Musiker Mudi rappt beispielsweise in seinem gleichnamigen Lied über "die Frau aus dem Orient", die mit typischen Symbolen, die bei der Charakterisierung des Orients Anwendung finden (beispielsweise Märchenhaftigkeit oder Verführung), beschrieben wird. Auch der Film „Aladdin“, der 2019 in die deutschen Kinos kam, reproduziert diese amerikanischen und europäischen Vorstellungen vom Orient.

Doch nicht nur in den Medien findet sich der Rückgriff auf das romantische Bild. Beispielsweise bot das Göttinger Hotel Freizeit In 2017 eine sogenannte „Sultansnacht“ an und warb mit „Bauchtanzshow […], Feuerspucker und […] türkische[m] Barbier“.[1] Und auch in Alltagsprodukten findet sich die Vorstellung vom exotischen und geheimnisvollen Orient, wenn etwa ein orientalischer Gewürztee mit den Worten „Lassen Sie sich […] in die schillernd bunte Welt des Morgenlandes entführen“ beworben wird.

Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch negativ geprägte Vorstellungen. So ist der Orient in der westlichen Vorstellungswelt häufig als ein Ort präsent, der durch Gewalt und Unterdrückung bestimmt sei, die beispielsweise von vermeintlich allmächtigen Kalifen ausgeübt würde. So gibt es die unterschiedlichsten – mitunter einander widersprechenden – Zuschreibungen, wie der Orient auszusehen hat und wie dieser geographische Bereich mit Bedeutung aufgeladen wird. Warum ist das so? Wie kommen diese Bilder zustande, vor allem angesichts der Tatsache, dass die Wirklichkeit mitnichten den Vorstellungen entspricht? Und was genau hat das alles mit dem Kolonialismus und der Entwicklung der Orientalistik im 19. Jahrhundert zu tun?

 

Was und wo ist der Orient?

Um zu verstehen, wie genau Orientalismus, Kolonialismus und die Orientwissenschaft zusammenhängen, muss zunächst geklärt werden, was der Orient überhaupt ist. Welches Gebiet wird mit diesem Begriff bezeichnet? War der Orient immer derselbe geographische Raum oder hat sich die Bedeutung des Wortes im Laufe der Jahrhunderte verändert? Wann, wie und warum hat man in Europa angefangen, sich mit diesem Bereich und den dort lebenden Kulturen auseinander zu setzen?

Mit dem Begriff „Orient“ wird das Gebiet bezeichnet, das im Osten von Europa liegt. Ein anderer Name dafür lautet „Morgenland“. Damit bildet dieser Begriff das Gegenstück zum sogenannten „Okzident“, also dem „Abendland“, das im Westen liegt. Doch wo wird die Grenze gezogen zwischen West und Ost? Diese Frage wurde sehr unterschiedlich beantwortet. So sah beispielsweise Aristoteles Griechenland als ein Grenzgebiet zwischen Europa und Asien. Auch im 19. Jahrhundert wurde Griechenland, da es zum Osmanischen Reich gehörte, zum Osten und damit zum Orient gezählt. Abgesehen von einem Gebiet bestehend aus dem Bereich von Japan, China, Indien, Persien, über das Osmanische Reich und später noch bis nach Nordafrika wurden auch teilweise vergangene Kulturen zum Orient gezählt, wie beispielsweise die der Babylonier, der Assyrer sowie das Alte Ägypten.

Wenn man heutzutage versucht, eine genauere Bestimmung zu finden, gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, wie man den Bereich „Orient“ definieren kann: Einerseits ist es möglich, ihn als den Ort zu verstehen, der nicht durch den lateinischen Katholizismus geprägt worden war. Auf der anderen Seite ist es möglich, die Grenze zwischen Orient und Okzident durch die unterschiedlichen Ausbreitungsgebiete von Islam und Christentum zu ziehen. Dies ist die heute gängige Definition. Damit ist die Teilung zwischen Osten und Westen mittlerweile eher eine Teilung zwischen Norden und Süden, denn während Nord- und Westafrika mit der Arabischen Halbinsel bis nach Indien, China und Japan zum Orient zusammengefasst werden, stehen auf der anderen Seite Nordamerika und Europa. Der Orient wird heutzutage also definiert als das Gebiet von Nordafrika bis Ostasien.

 

Woher kommt das Orientbild und was ist der Orientalismus?

Der Orient wurde und wird in Abgrenzung zu Europa definiert. Er wurde verstanden als das Gebiet, das sich von der Kultur des Westens, beispielsweise hinsichtlich der Religion, unterschied. Gleichzeitig wurde damit nicht nur der Orient, sondern auch Europa als eine Kultureinheit konstruiert. In der daraus zwingend immer folgenden Gegenüberstellung dieser beiden vermeintlichen Einheiten zeigt sich die grundlegende Problematik der Definition selbst. Und so verwundert es auch nicht, dass eine solche Definition im 19. und frühen 20. Jahrhundert, als der Begriff des Orients in Europa in aller Munde war, keineswegs dienlich war, um ein Verständnis zu schaffen für andere Kulturen oder gar von ihnen zu lernen. Stattdessen ging es vorrangig darum, die eigene, europäische Identität zu bestimmen. Der dabei entstandene Begriff „Orient“ zeigt also vor allem, wie die EuropäerInnen ihre eigene Kultur in Abgrenzung zu anderen Kulturen wahrnahmen. Das Orientbild wurde als ein Gegenentwurf zur eigenen Realität gebildet. Der Orient wurde von den EuropäerInnen mit Exotik und Ursprünglichkeit in Verbindung gebracht – unabhängig von den realen Gegebenheiten. Diese Zuschreibung bestimmter Eigenschaften, die den Orient aus europäischer Sicht charakterisierten, weil sie eine Abweichung zur eigenen Kultur darstellten, nannte Edward Said in seinem mittlerweile zum Klassiker avancierten Buch „Orientalism“, das 1978 erschien, „Orientalismus“.

Eine solche Bestimmung der eigenen Identität über Abweichung zu anderen ging häufig mit einer Bewertung einher. So wurde der Orient gegen Ende des 19. Jahrhunderts, also während der Zeit des deutschen Kolonialismus, zunehmend negativ belegt. Zunächst hatte man den Osten noch romantisiert und dessen Kleidung, Dichtung und Architektur nachgeahmt. Dies geschah auch als Ausdruck einer Kritik an Modernisierung und Technisierung, wie sie im Europa des 19. Jahrhunderts allenthalben zu beobachten war, denn die Veränderungen wurden von vielen als überfordernd wahrgenommen. Im Laufe des Jahrhunderts schlug dieses Bild jedoch um. Die angebliche Unwandelbarkeit und Beständigkeit, die zunächst als Rückzugsort und damit positiv verstanden worden war, wurde dem Orient zum Ende des 19. Jahrhunderts als Rückständigkeit angelastet. Daraus wurde die Annahme abgeleitet, die dort lebenden Völker seien nicht entwicklungsfähig und bedürften der Hilfe der europäischen Mächte, um am technischen Fortschritt teilhaben und eine (europäische) Zivilisation aufbauen zu können. Auf diese Weise wurde auch der Kolonialismus vermeintlich logisch begründet, der in just den Regionen, die man als Teil des Orients definierte, aufgebaut werden sollte. Zur weiteren Legitimation wurden rassistische Stereotype aufgerufen, laut welcher die „orientalischen Völker“ faul und lasziv seien. 

Diese Stereotype wurden häufig durch Teile der Orientalistik, also dem Wissenschaftszweig, der sich mit dem Orient auseinandersetzte, bestätigt. Dies ist unter anderem daran ablesbar, dass einige Kulturen nur als Wahrer ihres antiken Erbes verstanden wurden, womit ihnen die Fähigkeit abgesprochen wurde, zeitgenössisch selbst einen Beitrag zur menschlichen Kultur zur leisten.

Dabei ist zu beachten, dass das Bild vom Orient in Europa wiederum durch die westliche Sichtweise reproduziert wurde. Das Reisen in den Orient wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts zwar immer einfacher, denn mithilfe von Dampfschiffen wurden die Gebiete an den Mittelmeerküsten miteinander verbunden und ab 1883 gab es mit dem Orient-Express eine direkte Verbindung zwischen Paris und Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Doch trotzdem blieb diese Art, den Orient kennenzulernen, eine Ausnahme, die einer wohlhabenden Bevölkerungsschicht vorbehalten war.

Das weniger privilegierte Publikum konnte auf die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vermehrt entstehenden Weltausstellungen zurückgreifen, bei welchen außereuropäische Kulturstücke gezeigt wurden, beispielsweise aus dem künstlerischen oder religiösen Bereich. Dabei ist jedoch zu fragen, ob sich die Auswahl der präsentierten Objekte nicht auch an der Erwartungshaltung der BesucherInnen der Ausstellung orientiert hat und damit das bereits bestehende Orientbild reproduziert worden sein könnte. Es gilt auch zu bedenken, wer die Auswahl der gezeigten Gegenstände überhaupt traf und wer den Bestand der Ausstellungsstücke mit welchem Ziel zusammengestellt hatte: Eine im Orient lebende Person, die die eigene Kultur in Europa vorzustellen wünschte, oder EuropäerInnen, die das aussuchten, was in das westliche Orientbild passte?

 

Wie entstand die Orientalistik?

Orientalistik wurde seit der Reformation betrieben, um als Hilfswissenschaft der Theologie bei der Auslegung der Bibel zu helfen. Die Lehre vom Orient beschäftigte sich deshalb fast ausschließlich mit Sprachen, die für das Verständnis der Bibel relevant waren, wie beispielsweise Hebräisch, Chaldäisch (beziehungsweise Syrisch) und Aramäisch. Auf diese Weise wurde bis zum 19. Jahrhundert der Gegenstandsbereich der Orientwissenschaft über seine Nützlichkeit für die Auslegung und das bessere Verständnis der Bibel bestimmt. Die Disziplin war demnach auf das Ziel konzentriert, die eigene Religion besser deuten zu können. Die Sprachen wurden nur als Mittel zum Zweck verwendet und weniger, weil sie selbst als Forschungsgegenstände von Interesse sein könnten, ganz zu schweigen von der Kultur des geographischen Raumes, aus welchem sie stammten.

Zur Mitte des 18. Jahrhunderts lassen sich erste Tendenzen eines Wandels in der Fachwissenschaft nachweisen: Wenngleich die Zielsetzung noch immer das bessere Verständnis religiöser Texte war, begann man nun, sich stärker mit deren Entstehungskontexten auseinanderzusetzen. Die Bibel wurde verstärkt ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr als von Gott gegeben angesehen, sondern als Werk, das von Menschen gemacht worden und deshalb durch zeitgenössische Gegebenheiten geprägt war. Aus diesem Grund wurde es interessant, die Entstehungsbedingungen des Textes zu untersuchen. Obwohl sich die Orientwissenschaft über die Theologie begründete, wurden nun auch andere Fragestellungen in den Blick genommen. So begann man sich für die Geschichte, Geographie und Kultur des Orients zu interessieren. Einer der wichtigsten Vertreter dieses neuen Interesses am Orient war der Göttinger Professor für orientalische Sprachen, Johann David Michaelis (1717–1791). Dieser hatte ab 1746 den ersten Lehrstuhl für orientalische Sprachen in Göttingen inne, welcher traditionell noch an der Theologie angesiedelt war.

 

Das sogenannte „Michaelishaus“ in der Prinzenstraße 21 diente der Familie Michaelis lange Zeit als Wohnhaus. In diesem wurden auch einige Vorlesungen abgehalten.[Abb.1]

 

Erst mit der Gründung der École spéciale des langues orientales vivantes im Jahre 1796 durch Antoine Isaac Silvestre de Sacy konnte der Anstoß zur endgültigen Loslösung der Orientalistik von der Theologie gegeben werden. Nicht nur wurden jetzt auch nicht-biblische Sprachen in die Untersuchungen einbezogen, wie beispielsweise Sanskrit, Arabisch, Persisch und Türkisch, auch die Themenwahl war nicht länger an biblische Inhalte geknüpft. So bildeten nun auch orientalische Schriftstücke aus anderen thematischen Gebieten, beispielsweise der Philosophie, Mathematik, Geographie oder Medizin, die Grundlage für wissenschaftliche Untersuchungen. Die Orientalistik beschäftigte sich nicht mehr ausschließlich mit den orientalischen Sprachen, um religiöse Texte besser zu verstehen, vielmehr verschob sich der Schwerpunkt nun auf die Sprachen selbst, die linguistischen Untersuchungen unterzogen wurden. Dabei war es üblich, sich auf Textarbeit zu konzentrieren. Manche ForscherInnen reisten auch in den Orient. Und doch blieb eine Untersuchung von Gegenständen oder anderen Quellenzeugnissen aus den jeweiligen Gebieten lange Zeit  eher die Ausnahme. Deshalb wurde das Bild über den Orient vor allem aus dem Medium Text beziehungsweise aus der Sprache gewonnen und hatte kaum einen Bezug zu den zeitgenössischen Gegebenheiten. Obwohl auch nicht-theologische Schriften analysiert wurden, verblieb das Erkenntnisinteresse auf die Sprachen beschränkt und Geschichte, Religion oder die gegenwärtige Situation wurden nicht untersucht. Auch an der Göttinger Universität wurden sprachwissenschaftliche Untersuchungen vorgenommen. So unterzog Friedrich Carl Andreas einige Kriegsgefangene linguistischen Forschungen.

An dieser Sprachbezogenheit wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert Kritik geäußert. Die Erforschung der sprachlichen Systeme trat immer weiter in den Hintergrund und die Texte wurden nun auch als Mittel genutzt, um die Kultur, Geschichte, Religion und Politik der Bevölkerung im untersuchten Gebiet zu erschließen. Schließlich wurden auch neue Quellen herangezogen, wie beispielsweise Artefakte oder alltägliche Gegenstände, die Erkenntnisse über diese versprachen. Damit hatte sich die Orientalistik zu einer modernen Disziplin entwickelt. 

Seit der Loslösung der Orientalistik von der Theologie hat sich die Disziplin mehrfach aufgespalten und so zur Entstehung unterschiedlicher Fächer geführt. Dazu zählen die Indologie, die Turkologie und die Arabistik. Auch die Ägyptologie war beispielsweise in Göttingen bis 1902 Teil des Seminars für Orientalische Philologie und Sprachwissenschaft, wurde dann aber aus diesem ausgegliedert. Ebenso war die Keilschriftforschung bis 1936 an der Göttinger Universität am Orientalischen Seminar angesiedelt. So hat sich die ehemalige Orientwissenschaft mittlerweile in unterschiedlichste Fachbereiche ausdifferenziert.

 

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Orientwissenschaft, Orientalismus und Kolonialismus?

Die Vermutung liegt nahe, dass der Wandel der Orientwissenschaft, der durch die Loslösung von der Theologie eingeleitet wurde, politisch motiviert war. Das heißt, dass die Gewinnung von neuem Wissen über dieses Gebiet mit dem Wunsch im Zusammenhang gestanden haben könnte, in diesem Raum kolonisatorische Ambitionen umzusetzen. Die Erforschung des Orients an der Universität wurde durch den Kolonialismus befördert. Weil neue Kontakte zu diesem Gebiet entstanden und eine Reise dorthin durch den Bau von Eisenbahnstrecken und Ähnlichem vereinfacht wurde, konnten neue Objekte gewonnen und weiterführende Forschungsfragen gestellt werden. Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass beispielsweise die im Rahmen von Weltausstellungen gesammelten Objekte nicht zwangsläufig zur Aufklärung dienten, sondern das Bild vom Orient in der Bevölkerung womöglich nur reproduzierten. 

Auch half der Orientalismus, den Kolonialismus zu legitimieren: Indem der Mythos von „hilfsbedürftigen Völkern“ im vermeintlich entwicklungsunfähigen Orient geschaffen wurde, konnten die europäischen Mächte ihr Streben nach weltweiter Macht rechtfertigen. Dieses Bild ist noch bis heute in den Köpfen verankert, beispielsweise wenn man sich den Urlaub in Ägypten wie oben beschrieben als Schlendern über romantische Basare inmitten einer Wüstenstadt vorstellt – dann jedoch feststellen muss, dass auch dort durchaus Autos genutzt werden anstelle der erwarteten Kamele. So ist der Orient als Abgrenzung von der europäischen Kultur selbst heute noch prägend. Es gilt, diesen Einfluss von Orientalismus und Kolonialismus aufzuarbeiten und kritisch zu hinterfragen.

 

Von Annika Mittelstädt

 

 

Literaturhinweise

Ludmila Hanisch, Die Nachfolger der Exegeten. Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2003.

Sabine Mangold, Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004.

Andreas Pflitsch, Mythos Orient. Eine Entdeckungsreise, Freiburg 2003.

Edward Said, Orientalism, London 2003.

Wolfgang Westendorf, Zur Geschichte der Göttinger Orientalistik, in: Hans-Günther Schlotter (Hg.), Die Geschichte der Verfassung und der Fachbereiche der Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen 1994, 111–120.

Ursula Wokoeck, German Orientalism. The Study of the Middle East and Islam from 1800 to 1945, London – New York 2009.

 


 [1] Online unter: https://www.freizeit-in.de/event/sultansnacht/ (Letzter Zugriff: 19.9.2019).


Abbildung

[Abb.1] Foto: Privatbesitz von Annika Mittelstädt (2019).